Die Geschichte einer fruchtbaren Partnerschaft

Ein Gespräch über die Partnerschaft zwischen Opfikon (CH) und Čáslav (CZ) mit Jürg Leuenberger (1937). Er war 12 Jahre Stadtpräsident von Opfikon und 24 Jahre politisch aktiv. Man nennt ihn Vater der Glattalbahn und er war bei der Planung des Glattparks entschieden beteiligt.

 
Opfikon hatte seit den Neunzigern eine Partnerschaft mit der tschechischen Stadt Čáslav gepflegt. Wann und wie hat diese Partnerschaft angefangen?
 
Also damals, nach der samtenen Revolution und kurz bevor sich die Tschechoslowakei aufgeteilt hatte, meinte der Bund, dass es wünschenswert wäre wenn zwischen der Schweiz und der Tschechoslowakei Städtepartnerschaften entstehen würden. Der Kanton Zürich hat seine grösseren Gemeinden diesbezüglich angefragt und nach deren Zustimmung wurde eine ähnlich gelagerte Stadt aus der Tschechoslowakei zugeteilt. Die Städte waren nicht frei wählbar. Čáslav und Opfikon hatten zu der Zeit fast die gleiche Anzahl Einwohner. So haben wir 1992 diese Partnerschaft fest installiert und fingen an konkret mit den Behörden von Čáslav zusammenarbeiten.
Vom Kanton gab es keine finanzielle Unterstützung, aber auch keine Richtlinien wie man die Partnerschaft angehen, oder was man zusammen machen sollte. Man hat auch nicht gewusst wie andere Städte in ihren Partnerschaften vorgegangen sind.
 
Wie war eure Herangehensweise an die Partnerschaft?
 
Wir sind damals gewissermassen ins kalte Wasser gesprungen und haben uns die Bedürfnisse der Stadt angehört.
Nach dem Besuch in Čáslav und einer Bestandsaufnahme, gaben wir Empfehlungen ab, bei denen wir aus unserer Sicht aus, auf die dringendsten Punkte eingingen. Wir haben uns auf eine diplomatische Art zu Missständen geäussert.
 
Auf welchem Weg habt ihr kommuniziert?
 
Unsere Zusammenarbeit hat Korrespondenz und auch gegenseitige Besuche beinhaltet, mit allen Sprachproblemen die es dabei gab. Mit Einzelnen konnten wir uns zwar englisch unterhalten, aber die meiste Zeit über hatten wir die gleiche Dolmetscherin. Sie selber war nicht in der Stadtverwaltung von Čáslav tätig. Eine Professorin die mit einem tschechoslowakischen Oberst verheiratet war. Ihre Tochter hat später bei uns sogar Schulen besucht.
Unsere Delegation war zwei oder dreimal, jeweils für mehrere Tage in Čáslav. Es war hoch interessant die Stadt, die ansässigen Firmen, umliegenden Städte, Sehenswürdigkeiten und Prag mit ihnen zu erkunden.
Verglichen mit Opfikon, das man damals „die Stadt am Stadtrand“ nannte und das sich in den 70/80er Jahren entwickelte und gewachsen war, hatte Čáslav bautechnisch einen historischen Hintergrund. Den Gebäuden, zum Beispiel dem Opernhaus und dem Gymnasium, hat man angesehen, dass sie während der k u k Monarchie entstanden sind. Ich habe mir gesagt, dass es schön wäre ein solches Stadthaus wie sie es hatten, bei uns zu haben.
Wir waren auf ihre Kosten in einem Hotel einquartiert. Bei einem dieser Besuche wurden wir abgeholt und zuerst auf den Stadtplatz gebracht. Ich glaube es hatte Kastanienbäume auf dem Stadtplatz und auf einem Balkon mit Säulen, standen Stadtbläser die uns mit Fanfarenklang empfangen haben. Wir kamen uns da wie bei einem Staatsempfang vor. Das war wirklich toll. So einen Empfang hätte man bei uns nicht fertig gebracht. Wie hätten wir das in dieser Art bei uns auf irgendeinem Parkplatz machen können?
Sie waren da sehr traditionsbewusst und sind mit ihrem geschichtlichem Erbe entsprechend umgegangen. Sie haben auf das zurückgreifen können, da sie in der kommunistischen Zeit nichts Rechtes hatten. Auch etwas wovon wir uns ein Stück hätten abschneiden können war ihr Musikunterricht, da habe ich gestaunt. Bei uns hätte man fast einen prügeln müssen, damit er eine Blockflöte in die Finger nimmt.
Čáslav
Jürg Leuenberger und die ehemalige Opfiker Stadträtin Helene Kunz, Polizeichefin
Welche Situation habt ihr in Čáslav Vorgefunden?
 
Sie hatten z.Bsp.kein Altersheim. Sie hatten zwar ein so genanntes Spital, aber es war mit keinen Geräten, wie einem Röntgenapparat ausgerüstet. Sie hatten auch keine Abfallstrategie. Parallel gabs da einen alten, von Russen verlassenen, Flughafen in der Nähe. Es sind da etwa 6 Düsenflugzeuge verrottet. Sie hatten das Schwimmbecken in ihrem Hallenbad, wegen dem nicht mehr zweckdienlichem Zustand, zu einem Lager für die Kartoffelernten umfunktioniert.
Ich möchte hier den tschechischen Lesern nicht zu nahe treten, aber es war zu dieser Zeit wirklich eine Drittwelt Stadt.
 
Wenn du sagst sie hatten keine Abfallstrategie, welches Bewusstsein hatte die Stadt für Ökologie?
 
Damals war Ökologie für sie gar kein Thema. Sie haben gelebt wie sie konnten. Die Verpackungsorgien, die wir schon damals bei uns hatten, gab es bei ihnen noch nicht. Sie lebten viel einfacher, vom einzelnen Haushalt bis zur Verwaltung. Ich würde sagen sie waren auf keinen Fall eine Wegwerfgesellschaft. Sortieren etc. war aber auch kein Thema.
 
Welche Wünsche kamen von Čáslav?
 
Wir sollten der Regierung der Stadt unsere Art der Gemeindeverwaltung zeigen, Dinge die sie in der kommunistischen Ära so nicht gekannt hatten.
Ein praktisches Beispiel hierzu… Die Stadt Čáslav ist ja kein Provinzdorf, sie hat ja ein Opernhaus zum Beispiel, aber sie besassen in ihrer ganzen Verwaltung nur einen einzigen Computer bei der Polizei. Zu den Sitzungen, die der Stadtrat geführt hat, hat man kein Protokoll geführt, man hat keine schriftlichen Beschlüsse gefasst. Dies lief für uns alles höchst mysteriös ab. Čáslav hat gewünscht, dass wir sie verwaltungstechnisch einweihen. Vor allem konnten wir Knowhow vermitteln.
Wir zeigten wie wir Ziele setzten, wie Ziele zustande kamen, wie wir die Ziele ins Budget einfliessen liessen, wie wir Rechenschaft über das Budget ablegen und Verantwortungen teilen.
Es war nicht so als hätten wir die Weisheit mit Löffeln gegessen, aber wir haben uns gewundert wie sie so wie sie funktionierten, funktionieren konnten.
 
Sehr bald wurde die Alters- und Sozialversorgung behandelt, da sie keine Einrichtung für die Betagten besassen. Nicht nur ein Gebäude war nötig, sondern die Menschen müssen von Pflegepersonal umsorgt werden, sie müssen essen, sie müssen medizinische Betreuung haben. Auch administrativ war das noch ein unbekanntes Feld für sie. Finanziell war das alles über ihre Massen und unerreichbar. Wir halfen ihnen mit einem relativ kleinen Finanzaufwand, die ehemalige russische Kaserne in ein Alterszentrum umzufunktionieren. Weiter haben wir geholfen das Spital zu modernisieren. Damals hatten unsere Spitäler regelmässig die neuesten Geräte erworben. Mein bester Freund, ein Arzt in Opfikon, hat geholfen bei den Schweizer Spitälern die ausrangierten Geräte zu organisieren. Diese hatten wir dem Spital geschenkt. Ich weiss nicht wie lange die Geräte dann dort genutzt werden konnten aber ich denke es war für das Spital Personal wie Weihnachten.
 
Wie war es als die Delegation aus Čáslav bei euch in Opfikon zu Besuch war?
 
Ich hatte den Eindruck, dass die erste Delegation von Čáslav, bei uns einen Kulturschock erfahren hat. Dieser war in den Unterschieden begründet wie wir als Stadtverwaltung aufgestellt und ausgerüstet waren. Wir zeigten ihnen wie wir eine Verwaltung führen und wie man mit den damals modernen Medien umgehen kann. Wir haben uns versucht zurückzuhalten und haben bewusst nach und nach aufgebaut. Wir wollten ihnen nicht das Gefühl geben, dass wir uns als Heilsbringer sehen und sie die Armen sind, die einfach das zu machen haben was wir ihnen sagen.

Schwimmbad Opfikon
Im Bezug auf Schulmaterial hatten sie sich bei uns inspirieren lassen. Sie wollten wissen was bei uns in den Schulbüchern drin ist, denn bei Ihnen waren diese bis dahin parteipolitisch gefärbt. Bei uns war das eher weniger der Fall. Sie haben sich dafür interessiert wie eine Schule rein administrativ geführt wird, denn bei Ihnen wurde alles bis dahin von oben herab diktiert. Bei uns war die Schule von unten nach oben organisiert.
Ausserdem haben wir sie, unter anderem, auf den Uetliberg und auch auf den Vierwaldstättersee genommen. Um ihnen die Urschweiz zu zeigen, was der Sage nach passiert ist.
 
Auf den Fotos sehen die Gesichter bei eurem Besuch in Čáslav eher fröhlich aus und umgekehrt scheint beim Besuch in Opfikon eine ernstere Stimmung geherrscht zu haben.
 
Ich denke, sie kamen ja zu uns um zu lernen. Sie wollten herausfinden was sie bei sich zuhause besser machen konnten. Als wir in Čáslav waren, war es mehr Unterhaltung. Bei ihrem Besuch in Opfikon war es eher eine Kurs-Situation. Sie wollten genau beobachten und bei solchen Situationen sind die wenigsten in ausgelassner Stimmung.
 
Hattet ihr von Opfikon auch Wünsche an die Partnerschaft?
 
Wir hatten eigentlich keine grossen Wünsche. Die Beziehung liess uns einige Aha-Momente erleben. Es gab viel Austausch dazu wie es während dem kommunistischen Regime für sie lief. Wir haben im Bezug auf das Kulturelle viel profitiert. Auch zum Beispiel wie sie uns Prag zeigten, hätten wir die Stadt als reine Touristen nicht kennengelernt.
Čáslav
Kann man die Rollen, die ihr euerseits eingenommen habt, als Mentoren und Unterstützer zusammenfassen?
 
Ja, aber den Unterstützer-Teil will ich nicht all zu sehr betonen. Das hört sich zu sehr nach dem an, als wären wir die Grossen gewesen, die den Geldsegen ausschütten. Das war nicht so! Man hat versucht diesen Menschen dort, wo möglich und nötig, auf Augenhöhe unter die Arme zu greifen.
 
Die Partnerschaft wird nicht mehr aktiv gepflegt. Wie ist es dazu gekommen?
 
In diesen aktiven Jahren hatte es zwischenmenschlich sehr gut geklappt. Nicht nur zwischen mir und dem Bürgermeister, sondern auch zwischen den beiden Stadtschreibern und mit der Dolmetscherin. Wie gut es funktioniert hat, war für mich, und ich vermute auch für Čáslav, das Überraschendste. Es gab nach einigen Jahren Neuwahlen und der Bürgermeister, mit dem ich mich so gut verstanden hatte, wurde abgewählt. Schon vor den Wahlen hat mir der Bürgermeister gesagt, dass wenn sein Konkurrent die Wahl gewinnt, die Partnerschaft keine gute Zukunft hätte. Der Konkurrent sei ein stolzer Tscheche der sich nicht in die Position des Nehmenden begeben möchte. So kam es auch. Komischerweise wurde die Stadt ab den Neuwahlen wieder kommunistisch geführt und zwischenmenschlich hatte es dann nicht mehr so gut funktioniert. Irgendwann bin ich ebenfalls von meinem Posten zurückgetreten und so glaube ich ist das ganze gestorben. Ich glaube auch tatsächlich, dass der neue Bürgermeister die Partnerschaft nicht weiterführen wollte. Wahrscheinlich hatte er sich wie ein Betteljunge gefühlt. Genau weiss ich es nicht, aber ich habe das sehr bedauert, denn diese Partnerschaft hat auch uns viel gebracht.
 
Hättet ihr im Nachhinein etwas anders machen sollen?
 
Wir müssen das aus dem damaligen Blick beurteilen. Mit den Kenntnissen und mit unseren Möglichkeiten die wir alle hatten.
Daher kann ich sagen, dass wir gleich machen würden. Es wäre sehr befruchtend gewesen das weiter zu kutschieren.
 
Was war dein persönlicher Eindruck von Tschechien? An was erinnerst du dich, z.B. das Essen?
 
Das erste Mal machten ich und meine Frau 1968, zu Zeiten von Dubček, eine Reise durch Tschechien. Wir waren in Pilsen, Olmütz, in weiteren Städten und auch in Prag. Es war dort ganz spannend die Studenten an jeder Strassenecke stehen zu sehen, wie sie für die Freiheit, gegen das kommunistische Regime, Unterschriften sammelten. Sie waren auch sehr an uns interessiert und sie haben uns gewarnt. Es sei nicht sicher für uns.
Der Frust, den die Tschechen dank der Unterdrückung damals fühlten, war für uns nachvollziehbar. Auch wenn wir persönlich keine Tschechen kannten.
Als wir in den Nachrichten hörten, dass die Russen einmarschierten, sind meine Frau und ich aus Prag praktisch geflüchtet. Um zwei Uhr sind wir bei Nacht und Nebel mit dem Auto über die tschechisch – deutsche Grenze bis nach Nürnberg gefahren. Da gab es für uns einen Kulturschock. Aus dem unbelebten, nicht freudigen Prag kamen wir raus in das hell beleuchtete, lebendige und wie ein Rummelplatz wirkende Nürnberg. So stark habe ich selten einen solchen Unterschied wahrgenommen. Seit den 90ern war ich höchstens noch einmal in Prag.
Mir ist aufgefallen, wie nah das Essen an der bayrische Küche war… sehr mastig. Ich wurde nicht unbedingt Fan von dieser Art Küche. Wir haben bei uns damals, typisch schweizerisch, Fondue serviert. Wir haben ihnen auch unsere Eigenheit, das Brot erst in Kirsch zu tauchen, gezeigt. Irgendwie haben sie die Reihenfolge durcheinander gebracht und es sah wirklich nicht appetitlich aus. Auch wo sie es dann richtig gemacht haben, hätten sie denke ich eine Berner Rösti bevorzugt.
 
Hat sich dein Eindruck gegenüber Tschechien seit 68 über die 90er bis heute geändert?
 

Um auf diese Frage tiefer einzugehen bin ich wohl nicht der richtige Interviewpartner. Meine Informationen habe ich seit damals nur aus der Zeitung oder Nachrichten entnommen. Zwischendurch habe ich das Gefühl, ganz begriffen haben sie es immer noch nicht.

Jürg Leuenberger 2021
Von Katerina Sedy für CzechIN Zürich Geführt